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Flussnamen – was sie über das Oberwallis sagen

Prof. Iwar Werlen

Flussnamen interessieren aus drei Gründen: zum einen sind sie  verglichen mit anderen Flurnamen – alt, zum zweiten erstrecken sie sich über den ganzen Flusslauf, zum dritten können sie auch Siedlungen ihren Namen geben, die an ihnen liegen.

Im Oberwallis ist der älteste Name jener der Rhone oder des Rotten. Zurückgeht der Name als Rhodanos (griechisch) oder Rhodanus (lateinisch) natürlich nicht auf das Oberwallis, fliesst doch die Rhone aus dem Genfersee quer durch Südfrankreich bis nach Marseille. Irgendwo auf diesem langen Weg ist der Name entstanden und im Lauf der Zeit auch ins Wallis gekommen. In den Patois des unteren Kantonsteil heisst er heute runo oder ähnlich, die Franzosen nennen ihn le Rhône und die Deutschsprachigen die Rhone. Nur die Oberwalliser sagen ihm der Rottu oder Rotte (je nach Dialekt). In den Akten der Notare erscheint er immer noch in lateinischer Form als Rodanus (mit wechselndem Kasus). Sein Name spielte im Übrigen eine grosse Rolle bei der Festlegung der Zeit der sogenannten alemannischen Besiedlung des Oberwallis. Man ging damals davon aus, dass diese Besiedlung vor der Verschiebung von /d/ zu /t/ in den Wörtern Rhodanus und Sedunum stattgefunden hätte. Und da dieser Prozess von den Germanisten ins 8. Jahrhundert angesetzt wurde, nahm man eine Besiedlung vor diesem Zeitpunkt an. Das stimmt allerdings nicht mit anderen Daten überein. Heute geht man davon aus, dass Rotten und Sitten sogenannte Exonyme waren, also Namen von ausserhalb des Wallis, die den Leuten schon früher bekannt waren. Solche Exonyme findet man heute noch in Genf vs. GenèveMailand vs. MilanoFlorenz vs. Firenze und vielen anderen.

Ebenfalls sehr alt sind die Namen der grösseren Flüsse aus den Seitentälern. Vom Goms her Richtung Pfynwald sind das die Goneri, die Ägene, die Binna, die Massa, die Saltina, die Vispa, die Lonza, die Turtmänna und die Dala. Nur klein, aber als Sprachgrenze wichtig ist die Raspille mit der Grenze zwischen Salgesch und Siders. 

Zunächst fällt natürlich auf, dass die meisten dieser Flussnamen auf –a enden; einige davon haben früher Endungen auf –ona gehabt, die Saltina auf –ina oder –ana. Diese Bemerkung ist wichtig, weil das –a nicht, wie in anderen Flussnamen wie z. B. Engelberger Aa in Unterwalden auf ein dt. A(ch) ‘Bach, Fluss’ zurückgeht, sondern auf ein ursprünglich romanisches –ona oder –ina (vgl. dazu Lebel 1956, 229 ff.). Zugleich hat auslautendes -a auch das Genus mitbestimmt – die Flussnamen sind feminin, nicht maskulin wie der Rotten

Die erste Ausnahme von der Regel mit –a ist die Goneri. Sie mündet bei Oberwald (heute Gemeinde Obergoms) in den Rotten und ist die Fortführung von zwei Bächen: dem Gonerliwasser und dem Gerenbach. Das Gonerliwasser seinerseits hat seinen Namen von Alpe Gonerli. Die ältesten Belege haben dafür den Namen 1496 jm Gornerlin. Ob das stimmt oder ob es bloss eine gelehrte Deutung ist, bleibt unklar. Aber noch 1846 ist von einer Gorneralpe die Rede. Die Goneri geht also letztlich auf einen Alpnamen Gornerli zurück, der noch auf der Siegfriedkarte von 1879/80 erscheint. Ihr Name setzt sich aus dem romanischen Bestandteil Gorn– (letztlich zu lat. cornu) und einem Suffix –eri zusammen, das im Oberwallis für Bachläufe und Wasserleiten verwendet wird. In der heutigen Form ist das inlautende erste  -r- von Gornerli getilgt worden.

Der nächste Flussname ist die Ägene, die bei Ulrichen in den Rotten mündet. Der älteste Beleg hierzu ist wiederum ein Alpname, der 1240 als Ayguelina erscheint und 1327 als Egglina, später als Eglina benannt ist. Das /l/ schwindet erstmals in einem Beleg von 1560, wo von der Alpe Egene die Rede ist. Ursprünglich ist der Name wohl zu einer Ableitung auf –ina von aqua ‚Wasser‘ zu stellen; der älteste Beleg enthält ein /l/, das ein erweitertes Suffix zu sein scheint. Die Ableitung von aqua lässt sich zumindest aus den historischen Belegen des Glossaire des patois de la Suisse romande eruieren, welche aigue und aygue aufweisen. Die Ägene wäre dann einfach ‚das Wasser‘ (im Sinn von Bach oder Fluss). Und der Alpname wäre dann eine Ableitung zu diesem Wasser: die Alpe, die sich an der Ägene befand.

Schwieriger zu deuten ist die Binna. Schwierig deswegen, weil nicht klar ist, ob zuerst der Name des Flusses und des Tales, dann erst jener der Gemeinde entstand oder ob die Situation umgekehrt war. 1246 enthält der älteste Beleg jn tota valle de buyn ‚im ganzen Binn-Tal‘ und hier scheint sich buyn auf Binn zu beziehen. Etwas später ist von in bondolum (1379) und bundolo (1450) die Rede. So verführerisch es jetzt wäre, in bondolum und bundolo einfach Binntal zu sehen, so unwahrscheinlich ist das, weil eine Entwicklung von /d/ zu /t/ im 14. Jahrhundert überraschen würde. Der älteste erhaltene Beleg für den Fluss ist 1355 in Ernen ein Beleg ad aquam que búnna dicitur ‚beim Wasser (Bach), das Búnna genannt wird‘. Und in Binn selbst ist 1437 supra aquam bunne ‚oberhalb des Wassers (Bach) Binna‘ belegt. Daraus folgt zum ersten, dass bis etwa 1500 sowohl die Siedlung als auch der Fluss Bünn und Bünna gelautet haben; erst danach entstehen heutiges Binnund Binna. Zu vermuten ist also, dass der Fluss nach der Gemeinde heisst und nicht umgekehrt. Und so ist die Binna jener Fluss, der durch Binn fliesst und später bei Grengiols in den Rotten mündet.

Binna

Danach kommt die Massa. Sie entspringt dem Aletschgletscher und fliesst, heute durch einen Stausee gestaut und später turbiniert, bei Bitsch in den Rotten. Die ältesten Belege haben 1237 und später Massona. Wie weiter oben gesagt, sind Ableitungen auf –ona für Flüsse normal. Das zu Grunde liegende Wort ist hier massa‚die Masse‘. Massona und das heutige Massa sind also nichts anderes als der Fluss, der eine Masse Wasser führte – vor allem in der Schmelzzeit. Dass davon heute nichts mehr zu sehen ist, hängt mit dem Stausee und der Turbinierung des Wassers zusammen. Aber immer noch erinnert die majestätische Massaschlucht daran, dass hier einmal das wildeste Wasser des Oberwallis herunterkam.

Weiter unten fliesst die Säältina in den Rotten, zwischen Brig und Naters. Sie ist gleichzeitig die Grenze zu Glis. Ihr Name erscheint 1389 als Saltane (Genitiv zu Saltana) und Saltana heisst sie bis 1693, wo von der Sältinen die Rede ist. Als Briger weiss man natürlich, dass nur der unterste Teil der drei Bäche Ganterbach, Taferna und Nesselbach diesen Namen trägt. Er ist wohl zum lat. saltare ‚tanzen, springen‘ zu stellen. Die Säältina ist also ursprünglich ein schwer einzudämmendes, springendes Gewässer gewesen. Dass sie das immer noch kann, zeigt die Überschwemmung von 1993. 

Die Vispa, die bei Visp in den Rotten mündet, ist der längste dieser Zuflüsse, die als Saaser Vispe und Matter Vispe bei Stalden zusammenkommen. Wie schon bei Binn ist unklar, ob der Fluss nach dem Ort, oder der Ort nach dem Fluss benannt ist. Vispa ist der Name des Flusses schon zwischen 1275 und 1298, während der Ort selbst früher Vesbia und Viegi heisst. Aus vergleichenden Analysen schliessen Etymologen, dass der Fluss vor der Ortschaft den Namen trug. Auf Grund der Belege selbst lässt sich dieser Schluss natürlich nicht beweisen. Es ist aber wahrscheinlich, dass der grosse Fluss vorher so hiess und die spätere Siedlung Visp am Zusammenfluss von Rotten und Vispe danach benannt wurde. 

Wieder auf der anderen Talseite findet sich die Lonza, die heute zwischen Gampel und Steg in den Rotten mündet. Der ursprüngliche Name dieses Flusse ist 1304 Lodentza (Steg), später aber Lyechi (1381), was an den Namen des Lötschentals erinnert. Hubschmied (1938, 56) führte den Namen auf kelt. *loudantia ‚die Blei-Führende‘ zurück. Das mag eine Erklärung sein, aber unklar bleibt dennoch, warum das kelt. *loudon eine Rolle hätte spielen sollen. Dass der Name des Tales ursprünglich Lyehc (1233), Liech (1254) oder Liesc(1278) geschrieben wurde, deutet eigentlich nicht primär auf ein Bleivorkommen hin. Im ganzen Lötschtal gibt es keinen gemeinsamen Namen für das Tal; es gibt aber sehr wohl den Namen vallis de liech oder ähnlich. Daraus folgt also einfach, dass der Fluss Liech oder ähnlich hiess. Und der Name Lonza bzw. Lodentza muss ein alternativer Name sein. Ob er von einem Bleivorkommen abzuleiten ist, bleibt weiterhin unklar.

Die Turtmänna, auch Turtmännu, ist in den ältesten Belegen aus dem 13. Jahrhundert als aquam dictam tortemagny ‚das Wasser, dass Turtmänna genannt wird‘ und ähnlich benannt. Nun ist aber Thortemanei(1210), Tortemagny (1245) und so weiter auch der Name des Dorfes Turtmann. 1303 ist erstmals ein „deutsches“ Turteman belegt. Man erkennt unschwer, dass einem romanischen Namen Tortemagny ein deutsche „Übersetzung“ Turtmann hinzugefügt wurde. Der Dorf- und Bachname selbst ist letztlich ungedeutet. Es ist aber davon auszugehen, dass es das Dorf ist, das dem Bach und dem Tal den Namen gegeben hat.

Der letzte grössere Fluss mündet zwischen Leuk und Varen in den Rotten: es ist die Dala, die aus dem Dala-Tal mit Leukerbad, das früher Boez ‚Wald‘ hiess, herfliesst und in einer wilden Schlucht ins Tal strömt. Der Fluss heisst schon 1299 Dala und dieser Name bleibt ihm bis heute. Hubschmied hat nach Rübel (1950) diesen Namen auf griech. tholós ‚trüb‘ und kelt. *Dala ‚die Trübe‘ zurückgeführt. Er ist der Meinung, dass der Name von Leuk zu kelt. *Leuca ‚die Weisse‘ ursprünglich auch den Fluss bezeichnet habe; dass der Name aber später verändert worden sei. Hubschmieds Hypothese ist im Zusammenhang mit seiner Theorie der keltischen Flussgötter zu sehen, die heute sehr umstritten ist. Eine historische Deutung des Namens Dala liegt nicht vor. 

Der letzte Bach ist die Raspille, ein kleiner, wilder Bach, der zwischen Salgesch und Siders in den Rotten fliesst. Dialektal heisst er in Salgesch ts (e)Raffilji. Die Form hat Ernest Muret (1912, 15) aus dem Kontakt von s + p erklärt; seine Beispiele sind überzeugend. Tagmann (1946, 1) hat Raspille, resp. Raffillji ist dem Etymon rāfa ‚unproduktives Gelände‘ erklärt. In Salgesch und anderen deutschsprachigen Gemeinden ist offenbar die Endung im Deutschen als Diminutiv verstanden worden, sodass sich das Genus neutrum erklärt, während der Bach im Französischen weiterhin feminines Genus hat (la Raspille). 

Das Fazit der Ausführungen ist klar: im Oberwallis sind alle grösseren Fluss- und Bachnamen entweder aus keltischen oder französischen Wurzeln zu deuten. Der älteste dieser Namen, der Rottu oder Rotte, wie er im Oberwallis heisst, hat seine Bezeichnung wohl ausserhalb des Wallis erhalten und geht auf eine indogermanische Wurzel *rho– zurück. Daraus ist zu ersehen, dass die Oberwalliser Namenlandschaft sehr vielfältig ist – eine Herausforderung für alle, die sich mit den Orts- und Flurnamen dieses Gebietes beschäftigen.

Literatur (im Text zitiert). 

Hubschmied, Johann Ulrich (1938). Sprachliche Zeugen für das späte Aussterben des Gallischen. In: Vox Romanica 3, 48-155.
Lebel, Paul (1956). Principes et méthodes d’hydronymie française. Dijon.
Tagmann, Erwin (1946). Toponymie et vie rurale de la région de Miège (Haut Valais Roman). Erlenbach-Zürich.
Muret, Ernest (1912). Effets de la liaison des consonnes initiales avec s finale observés dans quelques nomrs de lieu valaisans. Lausanne.
Rübel, Hans Ulrich (1950). Viehzucht im Oberwallis. Sachkunde, Terminologie, Sprachgeographie. Frauenfeld.